Wenn die KI für dich denkt – Was ChatGPT laut MIT-Studie mit deinem Gehirn macht
- Julia

- 30. Sept.
- 6 Min. Lesezeit
Der Hype um ChatGPT
Seit ChatGPT auf den Markt gekommen ist, benutzen Millionen Menschen die künstliche Intelligenz, kurz KI, jeden Tag. Sie hilft beim Schreiben, beim Lösen von Aufgaben oder beim Erklären schwieriger Themen. Für viele klingt das wie ein Traum: keine stundenlange Suche im Internet mehr, keine Angst vor Fehlern – und alles in wenigen Sekunden erledigt. Doch was zunächst wie ein Segen wirkt, hat eine Schattenseite. Immer mehr Forscher warnen, dass die ständige Nutzung von KI das Denken verändert.
Eine neue Studie des Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer der bekanntesten Universitäten der Welt, zeigt, dass die Nutzung von ChatGPT die Aktivität im Gehirn deutlich verändert – und dass Menschen dadurch messbar weniger kreativ werden. Die Studie hat in der Wissenschaft für großes Aufsehen gesorgt, weil sie zeigt, dass digitale Helfer nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere neuronale Aktivität beeinflussen. „Neuronale Aktivität“ bedeutet: wie stark und auf welche Weise die Nervenzellen im Gehirn miteinander arbeiten.

Was die MIT-Studie untersuchte
Das Forschungsteam um Dr. Nataliya Kosmyna wollte genau wissen, was beim Schreiben mit ChatGPT im Gehirn passiert. Dafür führten sie ein Experiment mit 54 Studenten in Boston durch. Alle mussten mehrere Essays – also kurze wissenschaftliche Texte – zu bestimmten Themen schreiben. Die Teilnehmer wurden in drei Gruppen eingeteilt:
Die erste Gruppe schrieb ihre Texte ohne technische Hilfsmittel. Sie sollte nur das eigene Wissen und Denken verwenden. Diese Gruppe nannte man Brain-Only-Gruppe. Die zweite Gruppe durfte Suchmaschinen wie Google benutzen, um Informationen zu recherchieren. Die dritte Gruppe arbeitete mit ChatGPT-4o. Diese Studenten konnten ChatGPT um Vorschläge bitten, sich Sätze formulieren lassen oder ganze Textabschnitte überarbeiten lassen.
Während die Studenten schrieben, trugen sie EEG-Geräte. EEG steht für Elektroenzephalografie – ein Verfahren, das die elektrische Aktivität des Gehirns misst. So konnten die Forscher genau beobachten, welche Teile des Gehirns aktiv waren, wie stark sie zusammenarbeiteten und wie sich diese Aktivität je nach Arbeitsweise unterschied. Damit war dies eine der ersten Studien, die nicht nur das Ergebnis der KI-Nutzung untersuchte, sondern direkt sah, was im Kopf passiert.
Was im Gehirn passiert
Unser Gehirn arbeitet beim Denken wie ein Orchester: Viele Bereiche spielen zusammen, und erst das Zusammenspiel macht kluges Denken möglich. Der präfrontale Cortex – das ist der vordere Teil des Gehirns direkt hinter der Stirn – hilft beim Planen, Entscheiden und Strukturieren. Das Broca-Areal – eine Region in der linken Gehirnhälfte – ist für Sprache und Satzbau zuständig. Der Hippocampus, ein kleiner Bereich tief im Gehirn, speichert Erinnerungen und hilft uns, Wissen wieder abzurufen.
Wenn diese verschiedenen Bereiche gut miteinander verbunden sind, nennt man das neuronale Konnektivität. Das bedeutet: Die Nervenzellen (Neuronen) in verschiedenen Regionen tauschen Informationen schnell und effektiv aus. Je stärker diese Verbindung, desto besser funktioniert unser Denken.
Die Ergebnisse der MIT-Studie waren deutlich: Die Studierenden, die ohne Hilfsmittel schrieben, zeigten die stärkste neuronale Vernetzung. In der Google-Gruppe war sie schon etwas schwächer. Und bei den ChatGPT-Nutzern war sie am geringsten – um bis zu 55 Prozent niedriger. Das heißt: Ihr Gehirn arbeitete wesentlich passiver. Die Forscher interpretieren das so, dass das Gehirn weniger Energie verbraucht, wenn ChatGPT die Denkarbeit übernimmt. Es überlässt der Maschine die Verantwortung – und fährt selbst herunter.
Kognitive Schuld – ein bleibender Effekt
Doch damit nicht genug. Der verringerte Denk-Einsatz verschwand nicht sofort, als die ChatGPT-Nutzer später wieder ohne KI schreiben sollten. Ihre Gehirnaktivität blieb weiterhin niedriger als bei den anderen Gruppen. Die Forscher bezeichneten das als „kognitive Schuld“ (englisch cognitive debt). „Kognitiv“ bedeutet „das Denken betreffend“. Mit „Schuld“ ist hier nicht moralische Schuld gemeint, sondern eine Art geistige „Schulden“, die man beim eigenen Denken aufbaut.
Wenn man sich zu oft auf ChatGPT verlässt, übernimmt die KI immer mehr Aufgaben, die früher unser Gehirn trainiert haben: das Formulieren, das Nachdenken über Argumente, das Kombinieren von Ideen. Unser Gehirn gewöhnt sich daran, weniger zu leisten, und verliert langsam an metakognitiver Aktivität – das ist die Fähigkeit, über das eigene Denken nachzudenken. Man merkt also gar nicht mehr, dass man weniger selbst denkt.
Die Forscher vergleichen das mit körperlichem Training: Wenn man monatelang nicht läuft, verliert man Kondition. Auch das Gehirn ist ein Muskel – wer es nicht fordert, schwächt es.
Die Kreativitäts-Metriken – so stark sinken sie
Ein weiterer zentraler Teil der Studie betraf die Kreativitäts-Metriken. Das Wort „Metrik“ bedeutet hier „Messgröße“. Die Forscher bewerteten, wie kreativ die Texte der Teilnehmer waren, also wie originell, abwechslungsreich und ideenreich sie dachten.
Sie betrachteten vier Bereiche:
Originalität, also wie neu und ungewöhnlich eine Idee ist;
Flexibilität, das heißt, wie viele verschiedene Perspektiven oder Lösungswege jemand findet;
divergentes Denken, das beschreibt, wie viele unterschiedliche Ideen man in kurzer Zeit entwickeln kann;
Illuberation – ein Fachwort für die Fähigkeit, Ideen weiterzuspinnen, zu kombinieren und zu verbessern.
In allen vier Bereichen schnitten die ChatGPT-Nutzer deutlich schlechter ab. Die Originalität sank um 31 Prozent, die Flexibilität um 39 Prozent, das divergente Denken um 42 Prozent, und die Illuberation um 28 Prozent.
Das zeigt: Texte, die mit ChatGPT entstanden, waren zwar sprachlich korrekt und logisch aufgebaut, aber sie wirkten gleichförmig und vorhersehbar. Es fehlte der Einfall, das Unerwartete – genau das, was kreative Ideen ausmacht. Die Forscher sprechen von einem „Einheitsdenken“, das entsteht, wenn viele Menschen dieselbe KI nutzen und dadurch ähnlich denken.
Der Gedächtnis-Effekt
Ein besonders aufschlussreicher Teil der Studie war ein Gedächtnistest, der Wochen nach dem Experiment durchgeführt wurde. Dabei sollten sich die Teilnehmer an ihre eigenen Texte erinnern. Das Ergebnis war erstaunlich: Über 80 Prozent der ChatGPT-Nutzer konnten sich nicht mehr genau erinnern, was sie geschrieben hatten. In der Gruppe ohne Hilfsmittel waren es nur 11 Prozent.
Das zeigt, dass die KI-Nutzung auch das Langzeitgedächtnis beeinflusst. Unser Gehirn speichert Informationen am besten, wenn wir sie selbst aktiv verarbeiten – also überlegen, neu formulieren oder mit eigenem Wissen verknüpfen. Wenn ChatGPT diese Schritte übernimmt, bleibt der Stoff oberflächlich. Die Informationen wandern dann nicht ins Langzeitgedächtnis, sondern verbleiben im Kurzzeitgedächtnis, wo sie schnell wieder gelöscht werden. Man könnte sagen: Wer ChatGPT zu sehr vertraut, weiß am Ende weniger, obwohl er scheinbar produktiver war.
Warum das Gehirn so reagiert – und warum selbständiges Denken die Synapsen trainiert
Das Gehirn ist von Natur aus energiesparend. Es macht nur so viel, wie nötig ist, um eine Aufgabe zu lösen. Obwohl es nur etwa zwei Prozent unseres Körpergewichts ausmacht, verbraucht es rund 20 Prozent der gesamten Energie. Deshalb sucht es ständig nach Wegen, Energie zu sparen. Wenn ChatGPT eine Aufgabe übernimmt, kann das Gehirn entspannen. Es muss keine Wörter finden, keine Sätze strukturieren, keine Ideen kombinieren. Es spart also Energie – was zunächst angenehm ist.
Doch genau dieses „Energiesparen“ führt langfristig zu Problemen. Wenn bestimmte Denkprozesse seltener genutzt werden, schwächen sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Diese Verbindungen nennt man Synapsen. Sie sind die Schaltstellen, über die Informationen weitergegeben werden. Wenn Synapsen selten aktiv sind, werden sie abgebaut. Das Denken verlangsamt sich, die Kreativität sinkt. Deshalb sagen Forscher, dass man das Gehirn wie einen Muskel trainieren muss: Wer es nicht fordert, verliert mit der Zeit seine geistige Beweglichkeit.
Wie Lehrer und Schüler damit umgehen sollten
Die Forscher betonen, dass ChatGPT nicht grundsätzlich schlecht ist. Es kann ein hilfreiches Werkzeug sein – wenn man es richtig nutzt. Wichtig ist, dass Schülerinnen und Schüler lernen, bewusst mit der KI umzugehen. ChatGPT sollte das eigene Denken ergänzen, aber niemals ersetzen.
Eine gute Strategie ist, erst selbst zu denken, bevor man ChatGPT benutzt. Zum Beispiel kann man zunächst eine eigene Gliederung oder Argumentation schreiben und die KI anschließend um Feedback oder Verbesserungsvorschläge bitten. So bleibt das Gehirn aktiv, und man nutzt die Stärken der KI, ohne das Denken abzugeben.
Hilfreich ist auch, ein Lerntagebuch zu führen. Darin kann man festhalten, welche Ideen von einem selbst stammen und welche von der KI. Dadurch bleibt bewusst, was man tatsächlich gelernt hat. Außerdem sollte man Antworten von ChatGPT nie einfach übernehmen, sondern sie hinterfragen, umformulieren und mit eigenem Wissen vergleichen. So entsteht echtes Verständnis statt bloßer Wiederholung.
Was das für die Zukunft bedeutet
Die MIT-Studie zeigt eindrücklich, wie stark sich die Nutzung von KI auf unser Denken auswirken kann. Besonders bei Jugendlichen, deren Gehirn sich noch entwickelt, ist Vorsicht geboten. Wenn KI dauerhaft das eigenständige Denken ersetzt, kann das zu einem Verlust an Kreativität, Konzentration und kritischem Urteilsvermögen führen.
Gleichzeitig bietet KI große Chancen – vorausgesetzt, sie wird bewusst eingesetzt. Wenn wir lernen, ChatGPT als Werkzeug zu verstehen, das Denkanstöße gibt, aber keine fertigen Antworten liefert, kann es das Lernen und Arbeiten sogar fördern. Der Schlüssel liegt also in der Balance: KI als Unterstützung, nicht als Ersatz.
Man könnte es so zusammenfassen: Je mehr die KI für uns denkt, desto weniger denken wir selbst. Deshalb sollten wir ChatGPT nicht einfach blind vertrauen, sondern es mit Verstand einsetzen. Nur dann bleibt unser Gehirn stark, kreativ und unabhängig.
Denn eines ist sicher: Wie bei einem Muskel gilt auch fürs Denken:
„Use it – or lose it!“
Quellen:
MIT Media Lab (2025): Your Brain on ChatGPT – media.mit.edu






























